Schnaufend klettere ich über einen großen, rötlich-braunen Felsbrocken. Meine Finger krallen sich um die scharfe Kante und ich achte genau darauf, wo ich meine Füße hinsetze. Dann mache ich zwei Schritte nach vorne, drehe mich um und merke, wie meine Augen ein wenig wässrig werden. Ich kann es nicht fassen: Ich stehe auf der Wildspitze. Mit 3768 Metern der zweithöchste Berg Österreichs.
Vom Hochtourenkurs zur ersten selbständigen Hochtour
Wie es zu diesem Moment kam? Wir gehen zurück in die Zeit, zwei Monate, um genau zu sein. Ich gehe zum ersten Mal in meinem Leben mit Steigeisen und Eispickel auf einem Gletscher und bin über ein Seil mit vier anderen verbunden. Einer von ihnen ist ein Ausbilder des Alpenvereins. Für diesen dreitägigen Kurs habe ich mich schon vor Monaten angemeldet. Mit mir noch 19 andere, darunter ein paar Freunde, die ich aus dem Allgäu kenne. Auf der Diavolezza in der Schweiz, mit Blick auf die imposante Bernina-Bergkette, üben wir alles, was man für Gletschertouren können muss: Gehen mit Steigeisen und Pickel, Rettungsmaßnahmen, wenn jemand in eine Gletscherspalte gestürzt ist und viele verschiedene Knoten. Mir schwirrt gelegentlich der Kopf vor lauter neuen Informationen, aber nach drei Tagen bleibt ein Gefühl: Das möchte ich öfter machen. Meinen Gletscherkameraden geht es offenbar genauso, denn es werden sofort Pläne für die erste eigenständige Hochtour geschmiedet. Drei Wochen später gründet Bergfreund Michi eine WhatsApp-Gruppe. Die erste Nachricht lautet: „Was haltet ihr von Österreichs zweithöchstem Berg?“
Es klingt wie eine verrückte Idee, aber sie ist gar nicht so schlecht. Mit 3768 Metern ist die Wildspitze in den Ötztaler Alpen nur 30 Meter kleiner als der Großglockner. Trotzdem ist die Hochtour auf diesen Berg bekannt als eine Tour, die man auch als Anfänger gut machen kann. Als sich dann herausstellt, dass es noch freie Plätze auf der Breslauer Hütte gibt, ist die Entscheidung schnell getroffen. Wir sind uns einig, dass dieses Wochenende vor allem eine Lernerfahrung sein wird. Das Üben ist wichtiger als das Erreichen des Gipfels. Wir reservieren Plätze im Schlafsaal für zwei Nächte, damit wir alle Zeit haben, die wir brauchen. Beim Alpenverein mieten wir die Ausrüstung, die wir nicht selbst haben: Steigeisen, Pickel, Karabiner, Reepschnüre und Eisschrauben.
Trockenübungen auf der Breslauer Hütte
An einem Freitagmorgen Anfang September ist es so weit: Wir fahren zu viert nach Vent im Ötztal, im Norden Tirols. Michi ist ein guter Freund aus dem Allgäu, Felix und Michael sind auch aus dem Allgäu und kennen wir vom Hochtourenkurs auf der Diavolezza. Von Vent aus wandern wir in etwa zwei Stunden zur Breslauer Hütte. Die Zeit bis zum Abendessen nutzen wir, um noch ein paar Übungen zu machen. Wir spielen noch ein paar Mal die lose Rolle durch, damit wir wissen, was zu tun ist, wenn jemand in eine Gletscherspalte stürzt. Außerdem üben wir, wie wir uns mit der Münchhausen-Technik hochziehen können. Welches Reepschnür muss noch mal wo befestigt werden? Und wie sieht es die Gardaschlinge noch mal aus? Gut, dass wir noch einmal üben, bevor wir morgen auf den Gletscher gehen. Hungrig setzen wir uns nach ein paar Stunden zum Drei-Gänge-Menü in die Hütte. Nach dem Essen besprechen wir noch einmal die morgige Tour, stellen die Steigeisen richtig ein, packen unsere Rucksäcke und gehen dann früh schlafen.
Der frühe Vogel…
„Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen Sonnenschein“ ertönt um halb fünf am nächsten Morgen. „ Geile Mucke, Michael“, flüstere ich und versuche mein Lachen zu unterdrücken. Mucksmäuschenstill verlassen wir die Hütte. Das Licht unserer Stirnlampen reicht gerade aus, um die rot-weiß-roten Markierungen zu erkennen. Wir gehen steil bergauf. Das Gelände ist eine Mischung aus Geröll und großen, oft losen Felsbrocken. „Wann haben wir das letzte Mal eine Markierung gesehen?“, fragt einer meiner Mitwanderer nach eineinhalb Stunden. „The only way is up“ gilt nicht ganz; wir haben den Weg verlassen. Und so kraxeln wir mühsam durch das Blockgelände zu der Stelle, an der wir eben noch andere Bergsteiger gesehen haben. Gut, jetzt sind wir wenigstens nicht mehr die Ersten – für mich sowieso die angenehmere Variante.
Über den Klettersteig zum Mitterkarjoch und Taschachferner
Der Mitterkarferner ist soweit verschwunden, dass wir nur noch für steile hundert Meter die Steigeisen anziehen müssen. Dann ziehen wir sie für den Klettersteig wieder aus. Mit Hilfe von Stahlseilen und Eisentritten an den Felsen überwinden wir innerhalb einer halben Stunde etliche Höhenmeter. Die Sonne kommt immer näher, und als wir das Mitterkarjoch erreichen, spüre ich, wie die ersten Strahlen mein Gesicht wärmen. Ein perfekter Moment für die erste Pause. Mit Blick auf den Taschachferner frühstücken wir und besprechen den weiteren Verlauf der Hochtour auf die Wildspitze. Es ist Zeit, das Seil bereit zu machen und als Seilschaft weiter zu gehen. Ich nehme meine Position ein und klicke meinen Karabiner in die Doppelacht im Seil. „ Seid ihr bereit?“, fragt Michael, der die erste Position einnimmt. Zur Bestätigung heben Felix, Michi und ich unsere Pickel in die Luft. Wir machen unsere ersten Schritte auf dem Gletscher und ein breites Lächeln erscheint auf meinem Gesicht. Michael findet einen Weg zwischen den riesigen Gletscherspalten. Manchmal müssen wir sie auch überqueren. Ich haue meinen Pickel in die Eiswand auf der anderen Seite und mache einen großen Schritt über das gähnende Loch.
Auf dem Dach von Nordtirol: die Wildspitze
Dann spüre ich plötzlich, wie der Boden unter meinen Füßen flach wird. Ich hebe meinen Blick. Wahnsinn! Vor mir steht das glänzende Gipfelkreuz. Ich halte mich daran fest und drehe mich um; wohin ich auch blicke, ich sehe nur Berggipfel. Die Ortlergruppe, die Brenta, der Rätikon, das Verwallgebirge, die Lechtaler Alpen: Unglaublich, wie weit wir heute sehen können. Wir sehen sogar die Berninagruppe, wo wir unseren Gletscherkurs gemacht haben und wo der Samen für dieses Abenteuer gepflanzt wurde. Wir geben uns gegenseitig ein High Five, dann ziehen wir alle Klamotten an, die wir dabei haben, damit wir noch eine Weile auf dem Gipfel bleiben können.
Von der Wildspitze weiter über den Jubiläumsgrat
Andere Seilschaften kommen und gehen. Mit einem der Bergführer besprechen wir unsere weitere Route. Wir haben uns zwar schon vorher informiert, aber eine Expertenmeinung schadet ja nicht. Er bestätigt unseren Plan, über den Jubiläumsgrat zurück zu gehen. Ich muss schlucken. Der Weg über den Grat sieht zwar wunderschön aus, aber ein so schmaler Gratweg mit einem Abgrund links und rechts macht mir auch Angst. Der Zweifel ist mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn meine Wanderfreunde schauen mich fragend an. „Versuchen oder lieber nicht?“, fragt einer von ihnen. Ich nicke. Wir haben bisher alles gemeinsam gemacht, also wird auch das klappen. Fünf Minuten später gehe ich mit einem breiten Grinsen den Grat hinunter. Ja, hier darf man wirklich keinen Fehltritt machen. Und ich werde meiner Familie bestimmt keine Bilder von diesem Wegabschnitt schicken (sorry, Mama). Aber abgesehen davon ist es eine der schönsten Gratwanderungen, die ich je gemacht habe.
Steinschlag, Spalten und Spieleabend
Als wir an einer großen Gletscherspalte vorbeikommen, beschließen wir, die Gelegenheit zu nutzen und eine weitere Übung zu machen. Mit Eisschrauben bauen wir eine Sicherung, Michael hängt sich in die Gletscherspalte. Wir spielen die Situation ein paar Mal durch, bis Felix bemerkt: „Sagt mal, Leute, wenn wir noch eine Chance auf den Kaiserschmarrn haben wollen, müssen wir jetzt weiterwandern.“ Wir stimmen lachend zu und räumen auf. Die letzten Kilometer legen wir über steiles Blockgelände zurück, das in einen Wanderweg übergeht. Wer hätte gedacht, dass es so schön ist, nach so viel Schnee, Eis und Blöcken auf einem „normalen“ Weg zu laufen? Wir erreichen die Breslauer Hütte sogar noch rechtzeitig für Kaiserschmarrn und heiße Schokolade. Der Nachmittag geht nahtlos in den Abend über und obwohl für einen Moment die Diskussion aufkommt, ob wir nicht doch schon heute absteigen und nach Hause fahren sollten, ist so ein Spieleabend auf der Hütte zu verlockend. Und ja, insgeheim gibt er uns auch die Möglichkeit, die nächste Hochtour zu planen. Denn eines ist sicher: Das war nicht unsere letzte gemeinsame Hochtour!
Hochtour Wildspitze mit Stützpunkt Breslauer Hütte – Zahlen & Fakten
Tag 1: Vent – Breslauer Hütte
🕑 Wanderzeit: ca. 2 Stunden
⟷ Distanz: 5 km
↗️ Höhenmeter: 910 m bergauf
💡 Anforderungen: –
💪🏻 Schwierigkeitsgrad: mittel
📌 Startpunkt: Vent
🚍 Öffis: Bus 330 zwischen Sölden und Vent
Dag 2: Breslauer Hütte – Wildspitze über Mitterkarjoch – Jubiläumsgrat – Rofenkarferner – Breslauer Hütte
🕑 Wanderzeit: ca. 7 Stunden
⟷ Distanz:: ca. 9 km (je nach Route über die Gletscher)
↗️ Höhenmeter: ca. 920 m bergauf und bergrunter (je nach Route über die Gletscher)
💡 Anforderungen: Gletschererfahrung, Gletscherausrüstung, Klettersteig-Erfahrung, Klettersteig-Ausrüstung
💪🏻 Schwierigkeitsgrad: WS oder PD nach der SAC-Berg- und Hochtourenskala mit Klettersteig B bis C, Kletterpassagen bis UIAA I+
📌 Startpunkt: Breslauer Hütte
Tag 3: Abstieg wie Tag 1
Ausrüstung für die Hochtour auf die Wildspitze
Um die Wildspitze von Vent aus zu besteigen, ist eine komplette Gletscherausrüstung und ein Klettersteigset erforderlich.
Die Gletscher- Ausrüstung umfasst:
- Seil pro Seilgruppe
- Sportklettergurt oder spezieller leichter Hochtourengurt (ich verwende meinen Sportklettergurt Edelrid Janye*)
- Helm (ich verwende meinen Kletterhelm Black Diamond Vision Mips*)
- 10- oder 12-zackige Steigeisen* mit Anti-Stoll-Platten (die das Festkleben von Schnee verhindern), die gut unter die Stiefel passen
- Eispickel*
- 3 Reepschnüre (Prusikseile*) 5 oder 6 mm Ø. 1 x 6 m, 1 x 5 m und 1 x 1,5 m (es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, wie viele Prusikseile man mitnehmen sollte)
- 1 Bandschlinge* von 120 cm Länge
- 1 extra gesicherter HMS/Schraubkarabiner (z.B. Petzl Ball Lock*)
- 2 Schraubkarabiner. Kann auch ein HMS-Karabiner und/oder ein extra gesicherter Karabiner sein
- 2 gleich große reguläre D-Karabiner
- 1 Eisschraube, Länge ab 16 cm (z. B. Black Diamond Express 16 cm*, kürzere Eisschrauben sind im weichen Sommereis weniger zuverlässig)
- es ist ratsam, zusätzlich zu den Prusikseilen moderne Ausrüstungsgegenstände für die Gletscherrettung mitzuführen, vorausgesetzt, man weiß, wie man damit umzugehen hat; kombinierte Flaschenzug-/Blockiergeräte (z. B. Petzl Micro Traxion) und Mini-Steigklemmen (z. B. Petzl Tibloc)
Für den Klettersteig brauchst du:
- Klettersteig-Set
- ggf. Kletterhandschuhe
Sonstige (Sicherheits-)Ausrüstung:
- Bergschuhe: steigeisenfest oder halbsteigeisenfest, je nach Tour (ich trage die steigeisenfesten Hanwag Sirius GTX*)
- Bergsteigerrucksack, Größe je nach Tour (wir hatten alle einen Rucksack zwischen 26 und 36 Litern)
- Regenhülle für den Rucksack (falls nicht wasserdicht)
- Biwaksack
- Erste-Hilfe-Set mit Aluminium-Rettungsdecke
- Ersatz-Schnürsenkel
- (Teleskop-)Wanderstöcke
- Gamaschen (gegen Schnee, Kieselsteine und nasses Gras)
- Karte 1:25.000
- Kompass und Höhenmesser
- GPS
- Taschenmesser/Werkzeugsatz
- Notfall-Pfeife
- ausreichend Wasser (ich hatte am Tag des Aufstiegs mehr als 2 Liter dabei)
- Proviant
- gute Sportsonnenbrille der Kategorie 3, im Hochgebirge ggf. auch der Kategorie 4
- Sonnencreme und Lippencreme mit hohem Schutzfaktor
- Stirnlampe mit ggf. Ersatzbatterien
- Mobiltelefon oder Smartphone
Was man an Kleidung mitbringt, ist natürlich sehr individuell. Ich hatte das Folgende dabei:
- Wanderhose
- T-Shirt für den ersten Tag und den Abend
- langärmeliges Merino-Shirt
- Merino-Leggings
- Fleece-Pullover
- Primaloft-Jacke
- Hardshell-Jacke
- zwei Paar Socken (eines zum Wandern, eines für den Abend)
- Unterwäsche
Für die Übernachtung in der Berghütte brauchst du:
- Hüttenschlafsack (in Berghütten meistens Pflicht)
- Ohrstöpsel
- Handtuch
- Toilettenartikel
- Hausschuhe für die Hütte (in der Breslauer Hütte vorhanden)
- ausreichend Bargeld + Kredit-/Debitkarte
- Mitgliedsausweis des Alpenvereins
- ggf. ein zusätzliches Shirt und eine (kurze) Hose für die Hütte
- Mülltüte für die Rücknahme von Abfällen
- Ladegerät(e) und/oder Powerbank
FAQ – Hochtour Wildspitze ab Vent über Breslauer Hütte, Normalweg und Jubiläumsgrat
Die Wildspitze befindet sich in den Ötztaler Alpen in Nordtirol, Österreich.
Mit 3768 Metern ist er der zweithöchste Berg Österreichs. Nur der Großglockner ist noch 30 Meter höher.
Ja. Wenn du nicht über genügend Gletschererfahrung und -kenntnisse verfügst, ist es ratsam, die Besteigung mit einem Bergführer durchzuführen. Google ‚Bergführer Wildspitze‘ und du wirst viele Anbieter finden.
Ja, das ist möglich. Wenn du an der Breslauer Hütte startest, kannst du über den Klettersteig, das Mittarkarjoch und den Taschachferner hinaufgehen. Das ist der so genannte Normalweg, den man auch wieder absteigen kann, wobei man beachten muss, dass man dann auch den Klettersteig absteigen muss. Alternativ kann man auch über den Jubiläumsgrat und den Rofenkarferner zur Breslauer Hütte absteigen und somit eine Überschreitung machen.
Wenn man von der Breslauer Hütte auf die Wildspitze steigt, muss man einen kurzen Klettersteig machen. Dieser hat den Schwierigkeitsgrad B bis C. Besonders der erste Abschnitt ist sehr steil. Lies meinen Artikel über Klettersteige, um noch einmal etwas über die Schwierigkeitsgrade zu erfahren. Es ist kein Topo des Klettersteigs verfügbar.
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